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Mit allen Sinnen

Der erste Eindruck zählt, heißt es oft. Doch wenn die Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes Bayern bei Menschen mit Demenz den Pflegegrad feststellen sollen, gilt häufig das Gegenteil.

Yvonne Mauerer, Fachberaterin Pflege beim Medizinischen Dienst Bayern, macht an diesem Dienstag einen Hausbesuch bei einer älteren Dame mit Demenz. Nachdem der Sohn sie in die Küche gebeten hat, fliegt ihr dort ein Becher Margarine entgegen. Statt einem „Guten Tag“ wirft die Mutter einen Salzstreuer hinterher. Als der Sohn einschreitet, setzt sich die Frau mit Yvonne Mauerer an den Tisch. Doch sie sagt kein Wort, ihre Arme sind verschränkt. „Da war kein Durchkommen, egal wie ich es versucht habe. Und dann ist die Frage: Was mache ich jetzt, die Begutachtung abbrechen?“

„Oft sind Angehörige von Menschen mit Demenz bei der Begutachtung verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte. Wir versuchen dann, im Rahmen der Begutachtung zu helfen, indem wir auf Unterstützungs- und Beratungsangebote aufmerksam machen.“

Yvonne Mauerer, Fachberaterin Pflege

Die Suche nach der Realität

Situationen wie diese treten bei Begutachtungen von Menschen mit Demenz besonders häufig auf, berichtet Yvonne Mauerer. Dann sind Fingerspitzengefühl und Erfahrung gefragt. „Die Stimmung kann schnell kippen oder auch minütlich variieren.“ Das liegt auch daran, dass die Einschränkungen sich im Tagesverlauf ganz unterschiedlich zeigen können: „Um 9 Uhr morgens bei der Begutachtung kann der Versicherte zum Beispiel Tag und Uhrzeit noch benennen. Über den Tagesverlauf kann sich das komplett ändern. Daher bilden Aussagen während der Begutachtung nicht unbedingt die Realität ab“, sagt Markus Fischer, Leiter Pflegebegutachtung Bayern Süd. Doch genau dieses realistische Bild des Unterstützungsbedarfes, den die Antragstellenden haben, wollen und sollen die Fachkräfte herausfinden. Maßstab für die Pflegebedürftigkeit sind dabei z. B.: Wie selbstständig können Aktivitäten durchgeführt oder Lebensbereiche gestaltet werden? Und wie stark ist die Person auf personelle Hilfe in diesen Bereichen angewiesen?

Aufmerksam und empathisch

Die Gutachterinnen und Gutachter erfragen die Krankengeschichte, gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und schauen sich Pflegedokumentationen oder ärztliche Befunde an. Auch die Besichtigung der Wohnverhältnisse, die für die Pflege relevant sind, gehört dazu. Bei Menschen mit Demenz kommt es dabei besonders auf einen aufmerksamen Blick an, so Fischer: „Wir haben oft das Phänomen, dass Versicherte, die eigentlich pflegebedürftig sind, keine Unterstützung wollen, weil sie ihr ganzes Leben lang alles selbst geregelt haben, das ist gerade in der jetzigen Generation der Menschen 75+ zu beobachten. Da brauche ich als Gutachter alle Sinne, um festzustellen, wie die häusliche Situation tatsächlich ist.“

Da kann der Blick in den Kühlschrank mit halb verdorbenen Lebensmitteln zeigen, dass das Zubereiten von Nahrung doch nicht mehr so gut funktioniert. „Wichtig ist bei der Begutachtung auch, dass man ein gemeinsames Level findet und den Menschen auf seiner Ebene abholt. Den Akademiker zum Beispiel, indem man ihn nach seinem früheren Job als Mineraloge fragt oder die Bäuerin durch Gespräche über die Arbeit im Stall“, gibt Yvonne Mauerer einen Einblick. 

„Versicherte, die eigentlich pflegebedürftig sind, wollen oft keine Unterstützung, weil sie ihr ganzes Leben lang alles selbst geregelt haben. Da brauche ich als Gutachter alle Sinne, um festzustellen, wie die häusliche Situation tatsächlich ist.“

Markus Fischer

Leiter Pflegebegutachtung Bayern Süd

Unterstützung auf allen Ebenen

Auch das Gespräch mit den Angehörigen kann wertvolle Informationen liefern und ist gerade bei fortgeschrittener Demenz enorm wichtig. Daneben brauchen sie manchmal selbst Hilfe, weil sie in ihrer Rolle als pflegende Angehörige überfordert sind, weiß Yvonne Mauerer aus Erfahrung: „Oft sind Angehörige von Menschen mit Demenz bei der Begutachtung verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte. Wir versuchen dann im Rahmen der Begutachtung zu helfen, indem wir auf Unterstützungs- und Beratungsangebote aufmerksam machen.“ Der Medizinische Dienst Bayern engagiert sich daher auch verstärkt in der Aufklärung zum Thema Demenz und geht auf vielen Ebenen in den Dialog, wie Fischer berichtet: „Bei Vorträgen und Veranstaltungen erklären wir, was Pflegebedürftigkeit überhaupt bedeutet und wie eine Pflegebegutachtung abläuft.“

Großes Augenmerk kommt auch dem Bereich Qualifikation und Weiterbildung zu. Alle Gutachterinnen und Gutachter sind ausgebildete Pflegefachkräfte und werden zu speziellen Themen wie der Begutachtung bei Demenz geschult. „Neue Mitarbeitende werden zum Beispiel über 16 Wochen lang eingearbeitet, lernen verschiedene Krankheitsbilder kennen und haben eine Mentorin oder einen Mentor an der Seite. Daneben gibt es ein breites Fortbildungsangebot auf Bundesebene und intern bei uns“, sagt Yvonne Mauerer.    

So gerüstet, können auch herausfordernde Situationen wie bei der Dame mit dem Margarinebecher gemeistert werden. „Ich bin erst einmal aus der Situation gegangen und habe den Sohn gebeten, dass wir uns zu zweit im Wohnzimmer unterhalten“, schildert Mauerer. Das hat gewirkt: „Zehn Minuten später kam die Dame zu uns und wollte wissen, um was es eigentlich geht.“

Die Fachstelle für Demenz und Pflege Bayern ist Informations- und Koordinierungsstelle für Fragen rund um die Themen Dmenz, Beratung in der Pflege und Angebote zur Unterstützung im Alltag.

Zahlen und Fakten der Fachstelle für Demenz und Pflege finden Sie hier
  • Was bedeutet Pflegebedürftigkeit?
  • Wie beantrage ich Pflegeleistungen?
  • Wann kommt der Medizinische Dienst?

 

Antworten und weitere Informationen zur Pflegebegutachtung finden Sie hier

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